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Während unser Bild Istanbuls immer noch vom Zentrum mit bekannten Baudenkmälern wie Hagia Sophia, Topkapi, Sülemania, Blaue Moschee und zahlreichen weiteren historischen Bauten bestimmt wird, wechselt das Bild der Stadt abrupt, sobald man sich einige Straßen von den historisch bedeutenden Orten entfernt.

Über Jahrzehnte war der informelle Selbstbau, Gecekondu, die Grundlage der Entwicklung der Metropole. Der Begriff Gecekondu bedeutet „über Nacht gebaut“ und beschreibt illegalen Siedlungsbau, errichtet auf besetztem Land, der für Millionen Zuzügler aus den ländlichen Regionen die einzige Chance war, Wohnraum zu sichern. Hierdurch wurden zwischen den 40er und 80er Jahren enorme Flächen um das historische Zentrum Istanbuls besiedelt, die durch weitreichende Amnestien in den 80er Jahren in das Eigentum der Bewohner übergegangen sind. Ohne Planung und Steuerung, mit notdürftiger Infrastruktur ausgestattet entstanden Stadterweiterungsgebiete, die auch heute noch existieren und das Bild Istanbuls der 60er Jahre prägen. Die Siedler machen nun in der zweiten und dritten Generation die Hälfte der Bevölkerung Istanbuls aus und stellen für die Stadt und die nun proklamierte Stadterneuerung in vielfacher Hinsicht ein Hindernis dar.

Mit der wirtschaftlichen Entwicklung der letzten 25 Jahre entstand eine neue Mittelschicht, die über höhere Kaufkraft verfügte und auch höhere Anforderungen an das Wohnen stellte. Zeitgleich begann die Veränderung der politischen Landschaft und damit einhergehend gesellschaftliche Veränderungen. Das entstehende Bedürfnis nach neuen Wohnungen wurde durch die staatliche TOKI ebenso wie durch private Entwickler und Investoren bedient, die nach internationalem Vorbild Wohnanlagen im Stil der gated communities entwickelten und errichteten. Nach den ersten, kleineren Anlagen entstanden mit der Zeit Projekte mit jeweils mehreren tausend Wohnungen, die auf abgegrenzten und durch private security gesicherten Arealen entstanden.

Diese Siedlungsform ist seit den 70er Jahren aus den USA bekannt, ähnliche Anlagen entstanden in Südamerika, in nordafrikanischen Städten, in Moskau um nur einige zu nennen. Das Versprechen nach einem sicheren, glücklichen Leben in einer nach einfachen Klischees gestalteten Umwelt ist allen gemeinsam. Für die spezifische Ausprägung in Istanbul spielt die staatliche Wohnungsbaubehörde TOKI eine bedeutende Rolle. Sie greift massiv in den Bodenmarkt ein und ist verantwortlich für eine Unzahl von Projekten. Ihre radikale Stadtentwicklungspolitik verfolgt das Ziel, Istanbul stärker für das globale Kapital zu öffnen und zu einem geostrategisch wichtigen Wirtschaftsstandort auszubauen. Zugleich ist sie als Immobilienunternehmen wichtiger Akteur auf dem Immobilienmarkt.Bis heute entstanden mehr als eintausend derartiger abgeschotteter Wohnanlagen, die das Stadtbild und das Erlebnis der Stadt radikal verändern. Zahlreiche Gecekondu wurden abgerissen und die Bewohner umgesiedelt.

Es entsteht ein Segregationsprozess auf mehreren Ebenen. Die neugeplanten Anlagen nehmen kaum Rücksicht auf Stadtstruktur und Umgebung. Maximale Selbstdarstellung und Abgrenzung ist das Leitmotiv. Ebenso wird das Erschließungsprinzip einer Stadtstruktur deutlich beschnitten. Zwischen den Anlagen bestehen lediglich Durchgangsstraßen, eine Querung der gated communities ist nicht möglich. Das Erlebnis einer Stadt als Gewebe von vielfältigen Stadträumen und Bewegungsmöglichkeiten wird auf das Vorbeifahren reduziert. Hinein kann nur derjenige, der über die notwendige Zugangsberechtigung verfügt.

Ein ähnlicher Prozess der Stadterneuerung ist nun für einige historische Stadtteile im Zentrum geplant. Unterstützt durch neue Gesetze zur Wiederherstellung historischer Bebauung sollen in zentralen Altstadtbereich (Talabasy, Fatih u.a.) bestehende „minderwertige“ Bauten – Produktionsstätten, Low-Budget-Unterkünfte für die dort Beschäftigten, historische Holzhaussiedlungen – durch innerstädtische gated communities als Straßenblock mit historisierenden Fassaden ersetzt werden. Diese heben die uns bekannte Funktion des Blocks auf. Die Aufteilung des Straßenblocks in Parzellen, deren Bebauung mittels einzelner aneinandergebauter Häuser mit jeweils eigenen Zugängen von der Straßenseite erschlossen sind, stellen das Bild der Altstadt dar, wie wir es in Europa kennen. Dieses soll nun in Teilen durch eine zur Straße geschlossenen Bebauung des Blockes, der nur noch über einen oder wenige zentrale Zugänge verfügt, ersetzt werden. Die Erschließung der Gebäude erfolgt nun über den Innenhof, welcher durch private security-kontrollierte Zugänge nur noch für Anwohner bzw. Befugte möglich ist. Die per se schon begrenzte Offenheit der Blockrandbebauung wird dadurch vollständig aufgehoben. Die Straßenzüge, durch kulissenhafte Fassaden dekoriert, haben nur noch eine mechanistische Erschließungsfunktion.

Istanbul entspricht nicht unserem Idealbild einer pluralistischen und sozial gerechten Stadt für alle. Die Aufnahme von Millionen Zuzüglern und die Entwicklung der Gecekondus hat sie mit großer Selbstverständlichkeit

gemeistert. Die aktuellen Stadterneuerungsprojekte beobachten wir mit Skepsis und Erstaunen. Die weiterhin erfolgende Zuwanderung durch Armutsflüchtlinge, durch Kriegs- und Bürgerkriegsflüchtlinge beschleunigt die genannten Segregationsprozesse und die In Besitznahme von Stadtgebieten ebenso wie die Entstehung von immer neuen gated communities. Für uns bleibt Istanbul ein faszinierendes Rätsel.

 

September 2014

Ekkehart Keintzel